Am 23. Juni diskutierten Expertinnen und Experten aus Architektur, Tourismus und Kulturvermittlung im Center da Capricorns im Bündnerischen Wergenstein über das Verhältnis von Baukultur und Tourismus. Organisiert wurde der Anlass von der ZHAW-Forschungsgruppe «Tourismus und Nachhaltige Entwicklung» im Rahmen der Wissenschaftscafés der Academia Raetica. Im Zentrum stand die Frage, wie Baukultur und Tourismus sich gegenseitig beeinflussen und gemeinsam zur nachhaltigen Entwicklung beitragen können.
Auf dem Podium diskutierten Alice Bertogg, Produktmanagerin Kultur bei der Surselva Tourismus AG, Sandra Bühler-Krebs, Dozentin am Institut für Bauen im alpinen Raum FHGR, Ivano Iseppi, Architekt und Inhaber Iseppi Ganzoni AG, und Kerstin Camenisch, Präsidentin der Icomos-Jury «Historisches Hotel des Jahres». Stefan Forster von der ZHAW moderierte die Diskussion.
Auch Studierende des ZHAW-Masterstudiengangs «Umwelt und Natürliche Ressourcen» sowie Teilnehmende einer Summer School der TU Darmstadt Fachbereich Architektur verfolgten die Diskussion.
Baukultur ermöglicht Tourismus, und umgekehrt
Alice Bertogg stellte die Initiative «Mira!cultura» vor, die Kulturführungen zu Geschichte, Architektur und Sprache in der Surselva anbietet. Die Nachfrage steigt: 233 Prozent mehr Führungen im ersten Halbjahr im Vergleich zum Vorjahr. Man suche im Tourismus vermehrt nach Sinnhaftigkeit, nach Identität und Echtheit und versucht Verantwortung zu übernehmen für die Kultur.
Als Beispiel für das Zusammenspiel von Baukultur und Tourismus wurde das Projekt «Ferien im Baudenkmal» vorgestellt. In der ganzen Schweiz werden derzeit 64 geschützte Gebäudetouristisch als Ferienwohnungen genutzt. Ivano Iseppi nannte auch des Besucherzentrums in der Viamala Schlucht. Mit der touristischen Erschliessung der Viamala-Schlucht wurde auch der Bau eines Besucherzentrums ermöglicht, das heute als Informations- und Begegnungsort dient.
Doch es gäbe auch eine Kehrseite: Sandra Bühler-Krebs verwies auf die Auswirkungen des Zweitwohnungsbooms. Durchschnittlich investieren Zweitwohnende jährlich rund 11’000 Franken in Renovationen – Beträge, mit denen Einheimische oft nicht mithalten können. Das führe dazu, dass immer weniger Menschen es sich leisten können, historische Häuser zu erhalten oder überhaupt noch im Dorf zu wohnen.
Qualität oder Kitsch?
Laut den Teilnehmenden gibt es keine einfache Antwort auf die Frage, wo Qualität endet und wo Kitsch beginnt. Was an einem Ort als traditionsbewusst und stimmig empfunden wird, könne anderswo als aufgesetzt und überinszeniert gelten. Für Sandra Bühler-Krebs ist das entscheidende Kriterium die Funktionalität und Echtheit eines Elements.
Auch Alice Bertogg zeigt sich skeptisch gegenüber erfundenen «Kulturangeboten», die einzig für Touristinnen und Touristen geschaffen werden. Es gehe um gelebte Kultur – nicht um inszenierte Spektakel.
Kerstin Camenisch zeigt, wie die Icomos-Jury bei der Auszeichnung historischer Hotels versucht, Qualität zu definieren. Dabei entstehe Qualität nicht durch Schönheitsurteile, sondern im Dialog mit den Menschen vor Ort. Bleibe dieser Austausch aus, werde selbst das eindrucksvollste Denkmal zu einer leeren Hülle – ohne Leben und Wirkung.
Architekt Ivano Iseppi betont, dass Qualität nicht nur im Historischen liege. Auch zeitgenössische Architektur müsse ortsgebunden, echt und verständlich sein. Als positives Beispiel nannte er die Sanierung des Center da Capricorns – einst ein Ferienheim für die Arbeiterschaft, heute ein Baudenkmal mit neuem Leben.
Zwischen Provokation und Notwendigkeit
Die Teilnehmenden waren sich einig: Konflikte zwischen Tourismus und Baukultur seien unvermeidlich. Es brauche Dialog – zwischen Touristikerinnen und Touristiker, Architektinnen und Architekten und der Bevölkerung. Als Beispiel wurde der temporäre Turm von Origen im 11-Seelen-Dorf Mulegns genannt.
Ob kulturelle Provokation oder innovativer Beitrag zur Regionalentwicklung, darüber gingen die Meinungen auseinander. Deutlich wurde, dass solche Projekte zentrale Fragen aufwerfen: zur Authentizität, zur Rolle der lokalen Bevölkerung und zur Finanzierung von Kultur im ländlichen Raum.
Kultur und Tourismus müssen der Nachhaltigkeit verpflichtet sein
Am Ende der Veranstaltung stand die Erkenntnis, dass Kultur mehr sei als ein touristische Angebot. Sie trage zur Gestaltung des Lebensraums und zur Identitätsbildung bei – und habe damit auch eine politische Aufgabe.
«Es geht nicht nur um Tourismus, sondern um die Lebensqualität in diesen Räumen. Baukultur und Tourismus stehen in einer wechselseitigen Beziehung, die auf Ortsbezug, Authentizität und nachhaltiger Entwicklung beruhen muss», schliesst Stefan Forster ab. (mm)
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